Sonntag, 20. Januar 2013
Für Käthe Reichel
rsp, 10:43h
Rainer Simon
Käthe Reichel lernte ich 1968 kennen, als ich meinen ersten Film vorbereitete, der „Wie heiratet man einen König“ heißen würde. Ich kam auf die verwegene Idee, ihr den kleinen Part einer Bäuerin anzubieten. Eberhard Esche und Cox Habbema spielten die Hauptrollen, Gudrun Ritter, Dieter Mann, Jürgen Holtz, Peter Dommisch waren auch dabei, um nur die Akteure dieses Hauses zu nennen. Käthe Reichel hatte damals nicht viel zu tun, am Theater wenig, was ihren Ansprüchen entsprach und im Film überhaupt nichts.
In Babelsberg saßen wir uns bei einem ersten Gespräch gegenüber. „Ja, wissen Sie, eine Rolle ist das noch nicht“, sagte Käthe, „wissen Sie, es fehlen die Imponderabilien, und um es mit Brecht zu sagen, die Dialektik der Figur müsste herausgearbeitet werden.“
Ich musste zugeben, viel Fleisch war wirklich nicht dran an der Rolle.
Käthe überreichte mir ein paar Seiten und sagte: „Ich habe aufgeschrieben, wie man der Figur ein soziales Profil geben könnte, was sie reicher macht und sinnlicher und damit spielbar.“
Ich las das. Aus der kleinen Rolle war eine mittlere Rolle geworden, aber das war nicht der Punkt: Was sie aufgeschrieben hatte, war viel besser, als was im Drehbuch stand und eine Bereicherung für das ganze Projekt. All die alten Filmhasen warnten mich, wenn ich mich auf solche Vorschläge einließe, würden die Schauspieler mir bald auf der Nase herum tanzen.
Aber warum sollte ich auf etwas verzichten, was besser war. Ich baute also Käthes Ideen ein, und so hielt ich es auch bei allen meinen weiteren Filmen, wenn mir jemand etwas anbot, was den Film besser machen konnte, ließ ich mich darauf ein. Ich hasse Unterwürfigkeit und Statusdenken. Schauspieler, die einen eigenen Kopf haben, waren mir immer lieber als Erfüllungsgehilfen. Als der Film fertig war, geriet der Studiodirektor außer sich und der Schreiber des „Neuen Deutschlands“ monierte es auch, dass in der Darstellung durch Käthe Reichel und Gudrun Ritter das Volk verunglimpft und historisch falsch dargestellt würde.
Das Jahr 1968 war ein schicksalsträchtiges, in Frankreich gingen die Studenten auf die Straße, auch in Deutschland rebellierten junge Leute, 23 Jahre nach 1945 kam ihnen die Idee, sich mit der faschistischen Vergangenheit ihrer Eltern auseinanderzusetzen. Sie wollten nun endlich selbst an die Macht. Ich blickte nach Prag, ich hoffte damals noch, dass es vielleicht ein menschliches kommunistisches Gesellschaftsmodell geben könnte. In Käthes Küche nahmen die Diskussionen kein Ende. In Prag rollten Panzer ein. Von Käthe bekam ich die ersten Bücher von Solschenizyn geliehen. Nun im Detail informiert über die Verbrechen, die in der Sowjetunion geschehen waren, gab es für Illusionen keinen Raum mehr.
Immerhin wollte ich mit meinen Filmen ein wenig dazu beitragen, die Grenzen der Einengung hinauszuschieben, ein paar Freiräume für den Einzelnen zu schaffen, dass er sich der Verantwortung für sein Leben bewusst wird, und seinen rebellischen Geist ansprechen.
Mit Käthe drehten wir einen nächsten Film „Männer ohne Bart“, da ging es um einen Schüler und seinen nur wenig älteren Lehrer, gespielt von Hermann Beyer, denen beiden ihre Träume mindestens ebenso wichtig waren wie die krude Realität. Käthe spielte die Mutter des Jungen, eine einfache, überforderte Frau. Es war wieder kein Thema, was die Mächtigen begeisterte.
Dann wollte ich Käthe in dem Märchenfilm „Sechse kommen durch die Welt“ in der Rolle des Starken besetzen, also als Mann. Sie schenkte mir ein kleines Büchlein von Laotse. Das Schwache besiegt das Starke – in diesem Sinne wollte sie die Rolle anlegen und ließ sich bei einer Maskenprobe als Ho-Chi-Minh schminken. Klar, dass der Studioleitung diese unkonventionelle Idee nicht passte, sie lehnten die Besetzung ab.
Ich hatte Rollen für Käthe in der ersten Fassung des „Till Eulenspiegel“ und im „Kreuzzug der Kinder“ als Gauklerfürstin, doch die Projekte kamen nicht zustande. Wir saßen oft in Buckow oder Berlin zusammen, und Käthe schrieb Szenen und brachte Vorschläge ein. Von niemand habe ich so viel gelernt über den Aufbau und die Gestaltung einer Rolle wie von ihr.
Dann drehte ich den Film „Zünd an, es kommt die Feuerwehr“. Wir drehten ein paar Szenen in Buckow. Natürlich besuchte ich Käthe. „Simon, du Verbrecher, du hast mich nicht besetzt, warum habe ich keine Rolle in deinem Film.“ Ich versuchte mich zu verteidigen, aussichtslos. Also kam ich auf eine Idee: „Gut, ich baue dich ein, morgen drehen wir hier die Szene eines Indianerfestes mit Hunderten von Mitwirkenden, da bekommst du deinen Auftritt.“ Nur der Kameramann und eine Maskenbildnerin wurden eingeweiht, niemand sollte sie erkennen. So erschien sie unter einer Kapuze versteckt als unauffällige Kleindarstellerin. Doch als dann der städtische Gefängnisdirektor den Ehrengast Karl May als den größten Dichter Deutschlands begrüßte, stürzte aus der Menge eine Frau auf die Schauspieler zu, schrie: „Nietzsche ist der größte Deutsche“, und drosch kreischend mit dem Schirm auf sie ein. Hannes Fischer und Hans-Dieter Schlegel, beides Hünen von Gestalt, verteidigten sich hilflos gegen das kleine Ungeheuer. Rolf Ludwig, Kurt Böwe, Jürgen Gosch, Günter Junghans, die mutigen Feuerwehrleute, verkrochen sich in die zweite Reihe, was Schauspieler relativ selten tun, und ich hatte alle Mühe, um das Wohl der Artisten besorgte Aufnahmeleiter zurückzuhalten. Bis dann der erlösende Schrei ertönte: „Käthe!“ Gudrun Ritter hatte sie erkannt.
Die Szene ist im Film zu sehen.
1980 drehte ich „Jadup und Boel“, den Film, der bis 1988 in der DDR verboten blieb. Käthe war die Mutter des von Katrin Knappe gespielten verschwundenen Mädchens Boel, deren Haus einstürzt, als Bürgermeister Jadup, Kurt Böwe, gerade die neue Kaufhalle einweiht und die danach auf der Müllhalde lebt, als „Königin der Müllhalde“, so nannte Käthe es, wieder schrieb sie neue Dialoge und brachte ihre Ideen für Kostüm und Requisiten ein.
Als der Konflikt um den Film sich immer mehr zuspitzte und wir Protestbriefe an den Kulturminister, an das Politbüro-Mitglied Kurt Hager und an Honecker schrieben, war Käthes Unterschrift immer dabei, ebenso wie die von Kurt Böwe, Gudrun Ritter und Katrin Knappe. Meine Hochachtung galt und gilt immer Menschen mit Zivilcourage.
Der Stasi entging das natürlich nicht. Käthes verderblicher Einfluss auf mich wurde vermerkt. Sie galt damals als das „Konterrevolutionäre Zentrum Nummer Eins“ des Deutschen Theaters. Sie lagen falsch, es hätte heißen müssen das „revolutionäre Zentrum“.
Im Juni 1980 synchronisierten wir für „Jadup und Boel“, es war ein herrlicher Sommertag, Käthe tanzte übermütig vor dem Tonstudio und schmetterte „Freude schöner Götterfunken“.
Abends rief sie an: „Sebastian ist tot.“
„Du bist verrückt“, sagte ich und wusste, sie war es nicht.
Ich kannte Sebastian von Kind an. Auf Buckower Waldwegen lernte er in meinem Lada Auto fahren, wir schwammen zusammen in den märkischen Seen, er spielte Gitarre. Ich bekam mit, wie er nach Italien ging, zum Vater nach Milano, weil dass für seine Karriere als Gitarrist besser sein sollte, wie ja überhaupt zu jener Zeit im Westen alles besser war. Und wie er nach nicht allzu langer Zeit wieder zurück war, verändert. Er bekam an beiden Armen eine Sehnenscheideentzündung, konnte eine Zeit lang nicht mehr Gitarre spielen, war auf die Mutter zurückgeworfen.
Später bot ich Sebastian an, für „Jadup und Boel“ die Musik zu machen. Ein paar Tage vor seinem Ende rief er an und sagte mir ab, er könne das nicht. „Doch du kannst das, du sollst nichts anderes machen, als auf der Gitarre improvisieren.“ „Nein, Rainer“, sagte er, „ich kann nicht.“ In seiner Wohnung fand man überall Zettel: Tu es! Tu es doch endlich! Als er es getan hatte, haben wir die ersten Nächte bei Käthe zugebracht, wir konnten sie ja nicht allein lassen.
Aber Sebastians Tod wollte ich nicht verstehen.
Dann vergingen die Jahre, in meinen folgenden Filmen gab es keine Rollen für Käthe, und eigentlich fanden wir erst wieder zueinander, nachdem die Ostdeutschen die Mauer zum Einsturz gebracht hatten.
Ich hatte große Achtung vor Käthes sozialem Engagement, sei es für die Soldatenmütter in Tschetschenien, für Bischofferode oder in Vietnam. Wie wir uns früher einig waren in der Ablehnung des real-existierenden DDR-Sozialismus, waren wir uns nun einig in der Verachtung der unmenschlichen und zerstörerischen Praktiken des kapitalistischen Gesellschaftssystems sowie der Verblödungsstrategien der Religionen.
Ihres Sinns entleerte Worte wie Freiheit und Demokratie gilt es zu hinterfragen.
Was aber bei mir niemals dazu führte, zurückzuwünschen, was in der DDR war. Ich bin froh, dass ich nicht mehr eingesperrt bin. In Ecuador und anderen Ländern haben sich ganz neue Welten für mich aufgetan, da konnte ich es auch verschmerzen, dass ich im Westen noch viel weniger als in der DDR die Filme drehen konnte, die ich wollte. Und alles zu drehen, jeden Dreck, das hatte ich in der DDR nicht getan, dazu war ich auch im Westen nicht bereit.
Wir stritten miteinander. Käthe wollte die Welt in ihrer Dialektik über den Verstand erfassen, ich berichtete ihr von meinen Erfahrungen mit schamanistischen Ritualen und indianischer Kosmovision. Nur auf den Verstand sich zu verlassen, scheint mir eine fatale Sackgasse.
Alle klugen Gedanken sind längst gedacht, es hat nicht viel genutzt. Dichter und Denker, Philosophen und Künstler, wenn sie sich nicht als Huren einem System verkaufen, bleibt ihnen bestenfalls die Rolle der Narren. Die Macht aber liegt in den Händen der Mittelmäßigen, um nicht zu sagen der Eitlen und Dummen.
Wenn aber Käthe verteidigte, was sie einst gehasst hatte, sagte ich: „Käthe, jetzt spinnst du!“ Dann sog sie tief die Luft ein, räusperte sich deutlich, ich bekam ein paar derbe Schimpfworte ab, schließlich lachte sie kreischend. „Rainer, setz dich, ich lese dir etwas von Brecht vor.“ Das kannte ich meistens schon.
In den letzten Jahren wurde es immer stiller um Käthe, das geht den meisten so im Alter, von den Kollegen und Kolleginnen tauchte kaum noch jemand auf, nicht mal an den letzten Geburtstagen.
Die Nachricht von ihrem Tode fand ich im Internet auf der Insel Lombok in Indonesien.
Es war ein herrlich warmer Sonnentag wie damals, als Sebastian sich das Leben nahm.
Abends beim Feuer am Strand fragten meine indonesischen Freunde: „Du siehst traurig aus?“
„Ja, eine gute Freundin ist gestorben.“
Käthe war für mich einer der wichtigsten Menschen, denen ich begegnet bin.
Rainer Simon November 2012
Käthe Reichel lernte ich 1968 kennen, als ich meinen ersten Film vorbereitete, der „Wie heiratet man einen König“ heißen würde. Ich kam auf die verwegene Idee, ihr den kleinen Part einer Bäuerin anzubieten. Eberhard Esche und Cox Habbema spielten die Hauptrollen, Gudrun Ritter, Dieter Mann, Jürgen Holtz, Peter Dommisch waren auch dabei, um nur die Akteure dieses Hauses zu nennen. Käthe Reichel hatte damals nicht viel zu tun, am Theater wenig, was ihren Ansprüchen entsprach und im Film überhaupt nichts.
In Babelsberg saßen wir uns bei einem ersten Gespräch gegenüber. „Ja, wissen Sie, eine Rolle ist das noch nicht“, sagte Käthe, „wissen Sie, es fehlen die Imponderabilien, und um es mit Brecht zu sagen, die Dialektik der Figur müsste herausgearbeitet werden.“
Ich musste zugeben, viel Fleisch war wirklich nicht dran an der Rolle.
Käthe überreichte mir ein paar Seiten und sagte: „Ich habe aufgeschrieben, wie man der Figur ein soziales Profil geben könnte, was sie reicher macht und sinnlicher und damit spielbar.“
Ich las das. Aus der kleinen Rolle war eine mittlere Rolle geworden, aber das war nicht der Punkt: Was sie aufgeschrieben hatte, war viel besser, als was im Drehbuch stand und eine Bereicherung für das ganze Projekt. All die alten Filmhasen warnten mich, wenn ich mich auf solche Vorschläge einließe, würden die Schauspieler mir bald auf der Nase herum tanzen.
Aber warum sollte ich auf etwas verzichten, was besser war. Ich baute also Käthes Ideen ein, und so hielt ich es auch bei allen meinen weiteren Filmen, wenn mir jemand etwas anbot, was den Film besser machen konnte, ließ ich mich darauf ein. Ich hasse Unterwürfigkeit und Statusdenken. Schauspieler, die einen eigenen Kopf haben, waren mir immer lieber als Erfüllungsgehilfen. Als der Film fertig war, geriet der Studiodirektor außer sich und der Schreiber des „Neuen Deutschlands“ monierte es auch, dass in der Darstellung durch Käthe Reichel und Gudrun Ritter das Volk verunglimpft und historisch falsch dargestellt würde.
Das Jahr 1968 war ein schicksalsträchtiges, in Frankreich gingen die Studenten auf die Straße, auch in Deutschland rebellierten junge Leute, 23 Jahre nach 1945 kam ihnen die Idee, sich mit der faschistischen Vergangenheit ihrer Eltern auseinanderzusetzen. Sie wollten nun endlich selbst an die Macht. Ich blickte nach Prag, ich hoffte damals noch, dass es vielleicht ein menschliches kommunistisches Gesellschaftsmodell geben könnte. In Käthes Küche nahmen die Diskussionen kein Ende. In Prag rollten Panzer ein. Von Käthe bekam ich die ersten Bücher von Solschenizyn geliehen. Nun im Detail informiert über die Verbrechen, die in der Sowjetunion geschehen waren, gab es für Illusionen keinen Raum mehr.
Immerhin wollte ich mit meinen Filmen ein wenig dazu beitragen, die Grenzen der Einengung hinauszuschieben, ein paar Freiräume für den Einzelnen zu schaffen, dass er sich der Verantwortung für sein Leben bewusst wird, und seinen rebellischen Geist ansprechen.
Mit Käthe drehten wir einen nächsten Film „Männer ohne Bart“, da ging es um einen Schüler und seinen nur wenig älteren Lehrer, gespielt von Hermann Beyer, denen beiden ihre Träume mindestens ebenso wichtig waren wie die krude Realität. Käthe spielte die Mutter des Jungen, eine einfache, überforderte Frau. Es war wieder kein Thema, was die Mächtigen begeisterte.
Dann wollte ich Käthe in dem Märchenfilm „Sechse kommen durch die Welt“ in der Rolle des Starken besetzen, also als Mann. Sie schenkte mir ein kleines Büchlein von Laotse. Das Schwache besiegt das Starke – in diesem Sinne wollte sie die Rolle anlegen und ließ sich bei einer Maskenprobe als Ho-Chi-Minh schminken. Klar, dass der Studioleitung diese unkonventionelle Idee nicht passte, sie lehnten die Besetzung ab.
Ich hatte Rollen für Käthe in der ersten Fassung des „Till Eulenspiegel“ und im „Kreuzzug der Kinder“ als Gauklerfürstin, doch die Projekte kamen nicht zustande. Wir saßen oft in Buckow oder Berlin zusammen, und Käthe schrieb Szenen und brachte Vorschläge ein. Von niemand habe ich so viel gelernt über den Aufbau und die Gestaltung einer Rolle wie von ihr.
Dann drehte ich den Film „Zünd an, es kommt die Feuerwehr“. Wir drehten ein paar Szenen in Buckow. Natürlich besuchte ich Käthe. „Simon, du Verbrecher, du hast mich nicht besetzt, warum habe ich keine Rolle in deinem Film.“ Ich versuchte mich zu verteidigen, aussichtslos. Also kam ich auf eine Idee: „Gut, ich baue dich ein, morgen drehen wir hier die Szene eines Indianerfestes mit Hunderten von Mitwirkenden, da bekommst du deinen Auftritt.“ Nur der Kameramann und eine Maskenbildnerin wurden eingeweiht, niemand sollte sie erkennen. So erschien sie unter einer Kapuze versteckt als unauffällige Kleindarstellerin. Doch als dann der städtische Gefängnisdirektor den Ehrengast Karl May als den größten Dichter Deutschlands begrüßte, stürzte aus der Menge eine Frau auf die Schauspieler zu, schrie: „Nietzsche ist der größte Deutsche“, und drosch kreischend mit dem Schirm auf sie ein. Hannes Fischer und Hans-Dieter Schlegel, beides Hünen von Gestalt, verteidigten sich hilflos gegen das kleine Ungeheuer. Rolf Ludwig, Kurt Böwe, Jürgen Gosch, Günter Junghans, die mutigen Feuerwehrleute, verkrochen sich in die zweite Reihe, was Schauspieler relativ selten tun, und ich hatte alle Mühe, um das Wohl der Artisten besorgte Aufnahmeleiter zurückzuhalten. Bis dann der erlösende Schrei ertönte: „Käthe!“ Gudrun Ritter hatte sie erkannt.
Die Szene ist im Film zu sehen.
1980 drehte ich „Jadup und Boel“, den Film, der bis 1988 in der DDR verboten blieb. Käthe war die Mutter des von Katrin Knappe gespielten verschwundenen Mädchens Boel, deren Haus einstürzt, als Bürgermeister Jadup, Kurt Böwe, gerade die neue Kaufhalle einweiht und die danach auf der Müllhalde lebt, als „Königin der Müllhalde“, so nannte Käthe es, wieder schrieb sie neue Dialoge und brachte ihre Ideen für Kostüm und Requisiten ein.
Als der Konflikt um den Film sich immer mehr zuspitzte und wir Protestbriefe an den Kulturminister, an das Politbüro-Mitglied Kurt Hager und an Honecker schrieben, war Käthes Unterschrift immer dabei, ebenso wie die von Kurt Böwe, Gudrun Ritter und Katrin Knappe. Meine Hochachtung galt und gilt immer Menschen mit Zivilcourage.
Der Stasi entging das natürlich nicht. Käthes verderblicher Einfluss auf mich wurde vermerkt. Sie galt damals als das „Konterrevolutionäre Zentrum Nummer Eins“ des Deutschen Theaters. Sie lagen falsch, es hätte heißen müssen das „revolutionäre Zentrum“.
Im Juni 1980 synchronisierten wir für „Jadup und Boel“, es war ein herrlicher Sommertag, Käthe tanzte übermütig vor dem Tonstudio und schmetterte „Freude schöner Götterfunken“.
Abends rief sie an: „Sebastian ist tot.“
„Du bist verrückt“, sagte ich und wusste, sie war es nicht.
Ich kannte Sebastian von Kind an. Auf Buckower Waldwegen lernte er in meinem Lada Auto fahren, wir schwammen zusammen in den märkischen Seen, er spielte Gitarre. Ich bekam mit, wie er nach Italien ging, zum Vater nach Milano, weil dass für seine Karriere als Gitarrist besser sein sollte, wie ja überhaupt zu jener Zeit im Westen alles besser war. Und wie er nach nicht allzu langer Zeit wieder zurück war, verändert. Er bekam an beiden Armen eine Sehnenscheideentzündung, konnte eine Zeit lang nicht mehr Gitarre spielen, war auf die Mutter zurückgeworfen.
Später bot ich Sebastian an, für „Jadup und Boel“ die Musik zu machen. Ein paar Tage vor seinem Ende rief er an und sagte mir ab, er könne das nicht. „Doch du kannst das, du sollst nichts anderes machen, als auf der Gitarre improvisieren.“ „Nein, Rainer“, sagte er, „ich kann nicht.“ In seiner Wohnung fand man überall Zettel: Tu es! Tu es doch endlich! Als er es getan hatte, haben wir die ersten Nächte bei Käthe zugebracht, wir konnten sie ja nicht allein lassen.
Aber Sebastians Tod wollte ich nicht verstehen.
Dann vergingen die Jahre, in meinen folgenden Filmen gab es keine Rollen für Käthe, und eigentlich fanden wir erst wieder zueinander, nachdem die Ostdeutschen die Mauer zum Einsturz gebracht hatten.
Ich hatte große Achtung vor Käthes sozialem Engagement, sei es für die Soldatenmütter in Tschetschenien, für Bischofferode oder in Vietnam. Wie wir uns früher einig waren in der Ablehnung des real-existierenden DDR-Sozialismus, waren wir uns nun einig in der Verachtung der unmenschlichen und zerstörerischen Praktiken des kapitalistischen Gesellschaftssystems sowie der Verblödungsstrategien der Religionen.
Ihres Sinns entleerte Worte wie Freiheit und Demokratie gilt es zu hinterfragen.
Was aber bei mir niemals dazu führte, zurückzuwünschen, was in der DDR war. Ich bin froh, dass ich nicht mehr eingesperrt bin. In Ecuador und anderen Ländern haben sich ganz neue Welten für mich aufgetan, da konnte ich es auch verschmerzen, dass ich im Westen noch viel weniger als in der DDR die Filme drehen konnte, die ich wollte. Und alles zu drehen, jeden Dreck, das hatte ich in der DDR nicht getan, dazu war ich auch im Westen nicht bereit.
Wir stritten miteinander. Käthe wollte die Welt in ihrer Dialektik über den Verstand erfassen, ich berichtete ihr von meinen Erfahrungen mit schamanistischen Ritualen und indianischer Kosmovision. Nur auf den Verstand sich zu verlassen, scheint mir eine fatale Sackgasse.
Alle klugen Gedanken sind längst gedacht, es hat nicht viel genutzt. Dichter und Denker, Philosophen und Künstler, wenn sie sich nicht als Huren einem System verkaufen, bleibt ihnen bestenfalls die Rolle der Narren. Die Macht aber liegt in den Händen der Mittelmäßigen, um nicht zu sagen der Eitlen und Dummen.
Wenn aber Käthe verteidigte, was sie einst gehasst hatte, sagte ich: „Käthe, jetzt spinnst du!“ Dann sog sie tief die Luft ein, räusperte sich deutlich, ich bekam ein paar derbe Schimpfworte ab, schließlich lachte sie kreischend. „Rainer, setz dich, ich lese dir etwas von Brecht vor.“ Das kannte ich meistens schon.
In den letzten Jahren wurde es immer stiller um Käthe, das geht den meisten so im Alter, von den Kollegen und Kolleginnen tauchte kaum noch jemand auf, nicht mal an den letzten Geburtstagen.
Die Nachricht von ihrem Tode fand ich im Internet auf der Insel Lombok in Indonesien.
Es war ein herrlich warmer Sonnentag wie damals, als Sebastian sich das Leben nahm.
Abends beim Feuer am Strand fragten meine indonesischen Freunde: „Du siehst traurig aus?“
„Ja, eine gute Freundin ist gestorben.“
Käthe war für mich einer der wichtigsten Menschen, denen ich begegnet bin.
Rainer Simon November 2012
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